Doch war die äußerliche Gleichschaltung des Schulwesens unter staatlicher Kontrolle nicht das Ende waldorfpädagogischen Wirkens in der DDR. Im Verborgenen wirkten die Ideen und Ideale der anthroposophischen Menschenkunde und Pädagogik durch mutige und selbstlos agierende Menschen fort: im Einzel- und Gruppenunterricht einer freischaffenden Musiklehrerin, in privaten Spielstunden, im Religionsunterricht und der Jugendarbeit der Christengemeinschaft oder im Unterricht eines Lehrers an einer öffentlichen Schule, soweit es staatlich reglementierte Lehrpläne und Überwachung zuließen.
Unter dem Dach der Christengemeinschaft, die als einzige anthroposophisch impulsierte Bewegung in der DDR öffentlich wirken konnte, taten sich schon lange vor der politischen Wende 1989 an verschiedenen Orten und auch überregional Pädagog*innen und pädagogisch interessierte Persönlichkeiten zum Studium der anthroposophischen Menschenkunde und Pädagogik zusammen, „um vorbereitet zu sein, wenn einmal die Gründung waldorfpädagogischer Einrichtungen in unserer Region möglich werden sollte“.
Bereits bei den ersten freiheitlichen Demonstrationen im Herbst 1989 wurden in vielen ostdeutschen Städten Forderungen nach einem freien Schulwesen und nach Waldorfschulen laut. Mit großem Engagement organisierten sich Eltern in Gründungsgruppierungen und -vereinen und bereiteten in den nächsten Monaten die Gründung einer Waldorfschule vor. Unterstützt wurden sie dabei von erfahrenen Kolleg*innen und Schulen aus den westlichen Bundesländern. So muss es nicht verwundern, dass in unserer Region bereits im Herbst 1990 noch mit Genehmigung der letzten DDR-Regierung sieben Waldorfschulen gegründet werden konnten. Dies waren die Schulen in Magdeburg, Halle, Leipzig, Dresden, Chemnitz und Weimar. In den nächsten Jahren kamen weitere Schulgründungen in Jena (1991), Eisenach (1995), Erfurt (2006), Gera (2006), Thale (2006), Görlitz (2011), Leipzig (2011), Dresden (2014), Chemnitz (2018), Dessau (2019), eine weitere Schule in Dresden (2020) und in Rackwitz bei Leipzig (2021) hinzu, so dass jetzt 18 Waldorfschulen in der Region erfolgreich arbeiten.
Von Beginn an stellte sich neben vielen anderen auch die Frage, wie aus engagierten und hochmotivierten Autodidakten gut ausgebildete Waldorfpädagog*innen werden sollten, die die neu entstehenden und wachsenden Schulen im pädagogischen Kern tragen und mitgestalten können würden. Mit Unterstützung erfahrener und aufopferungsvoller Kolleg*innen aus dem Westen entstanden bereits zu Beginn des Jahres 1990 in mehreren Städten erste pädagogische Kurse, an denen viele künftige Kolleg*innen und interessierte Eltern teilnahmen und die teilweise über mehrere Jahre fortgeführt wurden. So fanden sich beispielsweise in Weimar mehrere Jahre lang alle zwei Wochen am Wochenende Menschen aus der ganzen Region zusammen, um Menschenkunde zu studieren, sich mit waldorfpädagogischer Methodik und Didaktik bekannt zu machen und sich in verschiedenen Künsten zu üben. Geleitet wurden die Kurse von Kolleg*innen aus Kassel, die oft nach ihrem Hauptunterricht am Samstagvormittag schnell nach Weimar fuhren, um dort bis Sonntag Mittag Begeisterung für die anthroposophische Pädagogik zu wecken und zu nähren und dann am Montag wieder vor ihren Klassen in Kassel zu stehen. – Es war eine Zeit des Aufbruchs.
Heute arbeiten zwei Ausbildungsinstitute für Waldorflehrer*innen in der Region: das berufsbegleitende Seminar in Dresden (seit 2001) und das überregional agierende Fernstudium für Waldorfpädagogik mit Sitz in Jena (seit 2003). Beide arbeiten im Trägerkreis an der Entstehung und Ausgestaltung des Campus Mitte-Ost mit.
An diese ersten Ausbildungsinitiativen in der heutigen Region Mitte-Ost möchte der Campus Mitte-Ost anknüpfen, denn es ist bis heute nicht leicht, ausgebildete Pädagog*innen in eine Region zu locken, die relativ weit entfernt von den großen Instituten der Waldorfpädagogen-Ausbildung liegt. Wir wollen die Menschen vor Ort für Tätigkeiten in der Waldorfpädagogik begeistern, sie fundiert auf ihre künftigen Aufgaben in den Schulen der Region vorbereiten und dabei gemeinsam mit den Teilnehmenden zeitgemäße Formen für lebenslanges Lernen und Persönlichkeitsbildung entwickeln.